Seit wir in Berlin die Weiterbildung zu "Interkultureller integrativer Beratung" durchführen, verfolgen wir die Diskussion um Interkulturelle Kompetenz natürlich kritischer als vorher. Denn dieser Begriff muss ständig auf seine Relevanz für die Praxis hinterfragt werden, immer wieder steht die Frage im Raum, was denn jetzt spezifisch interkulturell in einer konkreten Situation sei. Dadurch verschieben sich vermeintliche Klarheiten, relativieren sich Abgrenzungen.
Im Moment habe ich deshalb den Wunsch, möglichst nah an der Praxis zu bleiben und mich aus dieser Perspektive an der Begriffsklärung zu beteiligen. Ich stütze mich dabei stark auf den Einblick in verschiedene Bereiche sozialer Arbeit, den ich u.a. durch die Berliner Weiterbildung erhalten habe.
Als wir damals "interkulturell" zur Bezeichnung unserer Weiterbildung wählten, wollten wir auf die zusätzlich zu beachtende kulturelle Dimension bei der Beratung aufmerksam machen. Diese umfasst zum einen die Interkulturalität in der Beziehung zwischen Beratern und Klienten und zum anderen den gesellschaftlichen Kontext der Beratungssituation. Die Betonung des interkulturellen Aspektes weist dabei nur auf einen Ausschnitt der komplexeren Lebenswirklichkeit: Meist sind auch rechtliche, politische, soziale oder geschlechtsspezifische Aspekte, die die Lebensumstände von Migranten in der Aufnahmegesellschaft strukturieren, mitgemeint.
Die Betonung von Kultur als einem Schlagwort der 90er Jahre ist möglicherweise ein vorübergehendes Phänomen: So wie es Phasen gab, in denen soziale und ge-schlechtsspezifische Unterschiede z.T. überbetont wurden, so wird nun der kulturelle Unterschied, der lange Zeit missachtet wurde, in den Vordergrund gestellt. Insofern ist dieser Begriff eher eine Reaktion auf Vernachlässigtes. Er umfasst mit der Sicht auf das Individuum in all seiner Komplexität mehr als nur Interkulturelles (also zwischen Kulturen).
Interkulturelle Sozialarbeit berücksichtigt eine zusätzliche Variable. Interkulturalität be-deutete für uns aber auch, den Blick auf die Zielgruppe nachdrücklich zu erweitern. Die starre Einteilung in "Wir Deutsche" und "Ihr Anderen" wollten wir auch aufgrund unserer langjährigen Arbeit mit bikulturellen oder binationalen Individuen und Familien durchbrechen. Denn uns erschien offensichtlich, dass die Interkulturalisierung des Lebens auch den Aspekt der Auflösung solcher - vorgestellten - starren Grenzen mit sich bringt, dass es fließende Übergänge genauso gibt wie Brüche; es gibt Mischungen, Unentschiedenheiten und Patchworks. Dementsprechend finden wir auch eine Zunahme von Selbstbezeichnungen: z. B. Andere Deutsche, Schwarze Deutsche, Binationale, Bikulturelle, Hybride, vielleicht auch Mischlinge.
Wenn ich von Interkulturellen Kompetenzen spreche, sehe ich für den Bereich der Sozialen Arbeit darin vor allem eine Fähigkeit zu prozesshaftem Lernen, in dem neues Weltwissen und erweiterte Handlungsfähigkeiten den vielfältigen Situationen entsprechend angewendet werden. Es geht um praxisorientierten, konstruktiven Umgang mit den Herausforderungen in der Arbeit mit Menschen, die - bewusst vage ausgedrückt - mit Migration zu tun haben.
Die sehr breite Palette von Herausforderungen für Sozialarbeiter möchte ich anhand von vereinfachten Beispielen verdeutlichen.
Ein Akademikerpaar aus Nahost befindet sich in einer unlösbar scheinenden Ehekrise. Der vor vier Jahren gestellte Asylantrag wurde zwar als berechtigt angesehen, trotzdem wurde der Familie aufgrund internationaler Verwicklungen bisher nicht der entsprechende Aufenthaltsstatus zugebilligt. Beide leiden offensichtlich unter dem für sie sehr großen Statusverlust und Veränderungen in der Lebensqualität. Die Frau, sehr besorgt um die Schullaufbahn des Sohnes, wirft ihrem Mann die Fluchtentscheidung vor.
Im Rahmen dieser Paarberatung ist neben der allgemeinen Beraterkompetenz bei Partnerschaftskonflikten ein Hintergrundwissen über die rechtliche und soziale Situation von Flüchtlingen in der BRD sinnvoll, auch über Theorien von Migrationsverläufen nach Flucht und die jeweiligen Bewältigungsstrategien von Krisensituationen, u.U. auch Sprachkenntnisse bzw. Erfahrungen in der Arbeit mit Sprach-mittlern.
Eine 20 - jährige Frau kommt mit ihren beiden Kindern zum Jugendamt und sucht Unterstützung, um aus der elterlichen Wohnung auszuziehen. Mit dem Vater der Kinder wurde sie als fünfzehnjährige in Tunesien von ihrem tunesischen Stiefvater und mit Einwilligung ihrer deutschen Mutter nach islamischer Sitte verheiratet. Dieser Ehemann lebt weiterhin in Tunesien und sie möchte auch nicht, dass er nach Berlin kommt. Sie ist sehr traurig, dass nun auch ihre jüngere Schwester nach Tunesien geschickt wird.
Um welche Art von Familienkonflikt handelt es sich: Intra- oder interkulturell? Welche Unterstützung ist in diesem Kontext sinnvoll? Wie können die Lebensgeschichte der Frau und ihr familiärer Kontext Berücksichtigung finden?
Mit diesen Beispielen wollte ich hervorheben, dass der interkulturelle Ansatz die unterschiedlichsten Lebenssituationen und -ereignisse in ihrer Komplexität berück-sichtigen muss. Im Vordergrund stehen wie gewohnt die Individuen, die aber auch in ihren verschiedenen kulturellen Bezügen gesehen werden, ohne sie allerdings "in den Käfig ihrer Kulturen" einzusperren. (vgl. Finkielkraut, 1987)
Zur ganzheitlichen Betrachtung der Lebenssituation sind in der Sozialarbeit mit "Migrationsbetroffenen" also zusätzliche Dimensionen zu berücksichtigen:
Ein weiteres Problem besteht darin, dass sich "interkulturell" nicht sehr gut definieren lässt. Insbesondere ist eine klare Abgrenzung von Interkulturellem - also zwischen Kulturen stattfindendem - und dem, was innerhalb einer Kultur geschieht, kaum möglich. Es lässt sich also nicht genau definieren, wann eine Situation / ein Konflikt interkulturell und wann intrakulturell ist, sogar wenn eine platte Zuordnung von Kultur und Nation erfolgen sollte. (Dabei wird hier Kultur als dynamisch und offen gesehen, als realer Kontext, in dem Sozialisation erfolgt.)
Ich möchte dies an den Zugehörigkeiten eines Individuums zu verschiedenen Gruppen und kulturellen Milieus zeigen:
Die junge Frau aus dem letzten Beispiel gehört oder gehörte beispielsweise
zu deutscher Mutter mit ihrer Familie
zu tunesischem Stiefvater
zu ihren Halbgeschwistern
zu SchulkameradInnen
zu tunesischem Ehemann und seiner Familie
zu ihren beiden Töchtern
zu ihrem langjährigen, geheimen türkischen Freund
zum Kundinnenkreis von H&M
etc.
Diese fließenden Grenzen sind für knappe Definitionen von Nachteil, für die Praxis können sie dagegen als Vorzug gedeutet werden: Wenn es keine starren kulturellen Grenzen gibt, kann dies auch vor starren kulturellen Zuordnungen und Zuschreibungen schützen, kann dies Veränderungswünsche und -prozesse des Individuums einbeziehen. Es kann so eher akzeptiert werden, dass sich eine Person mal als deutsch und mal als afrikanisch bezeichnet.
Dadurch, dass es solche starren Grenzen nicht gibt, kann dieser interkulturelle Ansatz auch einen neuen Blick auf Kulturelles innerhalb der oft fälschlich als homogen angenommenen bundesdeutschen Kulturgemeinschaft entwickeln helfen. Manche Politiker scheinen sich zwar etwas unter einer deutschen Kultur vorzustellen, aber auch diese meinen damit sicher nicht, dass in der Lebenswirklichkeit unserer Achtzigmillionengesellschaft eine kulturell homogene Gemeinschaft DER DEUTSCHEN auszumachen sei. Untersuchungen in den Sozialwissenschaften fördern in dieser Hinsicht auf jeden Fall ein sehr viel differenzierteres Bild zutage, in dem z. B. von sozialen Milieus mit unterschiedlichen Wertorientierungen gesprochen wird.
Ein gemäßigt konstruktivistischer Gedanke bietet eine gute Grundlage für das hier geäußerte Verständnis von Interkulturellem Ansatz:
Ich darf nie davon ausgehen, dass der andere so wahrnimmt wie ich, dass er so denkt oder fühlt, wie ich glaube, dass er denkt oder fühlt. Insofern lebt jeder Mensch in seiner eigenen Welt. Je ähnlicher allerdings Aufwachsen, familiäre und kulturelle Prägungen, desto mehr Ähnlichkeiten können auch in der Interpretation der Signale aus der Außenwelt bestehen. (Vgl. zum gemäßigten Konstruktivismus Gerhart Roth, bdw 10/98, S.73)
Wenn die Grenzen zwischen Intra- und Interkulturellem fließend sind, dann werden sich auch die Kompetenzen nicht grundlegend unterscheiden. Dies ist - so scheint mir bisher - eine der zentralen Erfahrungen der Berliner Weiterbildung. Viele der Kompetenzen, die im Zusammenhang mit Interkultureller Sozialarbeit genannt werden, spielen auch in der bisherigen Sozialarbeit eine Rolle.
In Sozialer Arbeit sind Sie ohnehin gewöhnt daran, die Individuen in ihrer Besonderheit und der Komplexität ihrer Lebenszusammenhänge zu sehen. Sie sind gewöhnt an das Übersetzen oder Vermitteln zwischen Generationen, Geschlechtern, sozialen Schichten oder sozialen Milieus, Subkulturen und Kulturen. Übersetzen ist generell mit Irritation der eigenen Gefühle verbunden, diese Irritation ist sogar Voraussetzung dazu. Insofern ist Soziale Arbeit gut vorbereitet darauf, sich bewusster mit Kulturellem und dem In - Beziehung - Setzen von Kulturdifferenzen zu beschäftigen.
"Interkulturelle Kompetenz" kann damit in Sozialer Arbeit pragmatisch als ein Begriff genutzt werden, der zu bisherigen Differenzierungen die zusätzliche Einbeziehung der kulturellen und damit auch interkulturellen Dimension verlangt. Die Absicht dabei ist, die Singularität der Individuen auch in kultureller Hinsicht anzuerkennen und nicht, Individuen zu Kulturträgern zu reduzieren.
Auf einer sehr allgemeinen Ebene geht es bei diesen zusätzlichen interkulturellen Kompetenzen um
Allerdings spielen bei der Erweiterung von Wissen, Handeln und Reflexion Quantität und Qualität ineinander. Ich möchte diesen Gedanken wieder an Beispielen deutlich machen.
In Bezug auf Wissen ist eine notwendige Erweiterung schnell nachvollziehbar. Wenn ich mit Menschen arbeite, sollte ich einige Kenntnisse über sie und ihre Lebenssituation haben, also über rechtliche und soziale Hintergründe etwas wissen, und in der konkreten Arbeit danach handeln:
Sowohl im Bereich des Wissens als auch des Handelns geraten Sozialarbeiter immer wieder an Grenzen: Grenzen des Verstehens, der eigenen Kompetenz, des eigenen Selbstverständnisses sowie Grenzen der Institutionen und der Gesellschaft. Zur Aus-einandersetzung mit diesen Grenzen erscheint mir die Kompetenz der Reflexion als diejenige, die Wissen, Handeln und die Person des Beraters in Beziehung zueinander hält.
Dies ist insbesondere deshalb wichtig, da interkulturelle Wissens- und Handlungs-kompetenzen nicht unbedingt dem Klientenwohl dienen müssen. Zur Erinnerung: Hernán Cortés setzte seine beträchtlichen interkulturellen Kompetenzen inkl. Sprachmittler zum Ziel der Unterwerfung Mexikos ein. In einer spannenden aktuellen Untersuchung der Interkulturellen Kommunikation in multiethnischen PädagogInnenteams wird genau dies auch in sozialen Einrichtungen festgestellt: Interkulturelle Kompetenzen wurden häufig zum eigenen Machterhalt eingesetzt, dienten weniger den Interessen der Partner. (vgl. Marburger, Rösch u.a., Frankfurt 1998, Verlag für Interkulturelle Kommunikation)
Wir sind vor Missbrauch von unseren eigenen Kompetenzen und vor Inkompetenzen nicht völlig zu schützen. Wir leben in einer Gesellschaft mit sehr differenzierten und subtilen Anerkennungs- und Nicht-Anerkennungsmechanismen, die wir nicht immer durchschauen. Wir brauchen eigene Werte und Normen, wir dürfen auch Vorurteile haben, wir dürfen sogar unseren blinden Fleck und inneren Schweinehund besitzen. Allerdings - Professionelle sollten bereit sein, darüber nachzudenken, in sich hineinzuspüren, welche Werte, Gefühle, Grenzen sie haben oder zulassen, was sie ausklammern, ausblenden oder abwerten, weil es als bedrohlich Fremdes erscheint. Insofern ist die Erweiterung der Reflexionskompetenz in diesem sehr mit sozialer Ungleichheit und Nicht-Anerkennung vermengten Bereich der interkulturellen Sozial-arbeit so wichtig.
* Überarbeiteter und gekürzter Vortrag, gehalten auf der Fachtagung Schlüsselqualifikation "Interkulturelle Kompetenz" der Paritätischen Akademie Frankfurt / M., 16. 18. November 1998